AMNOG – lernfähig, auch lernwillig? Blinde Flecken im AMNOG-Verfahren aus Sicht von Pharma Deutschland

19.07.2024 Hauptgeschäftsführerin Dorothee Brakmann hat einen Gastbeitrag im AMNOG-Report 2024 von der DAK Gesundheit veröffentlicht.

Das AMNOG aus 2011 ist in der Pubertät angekommen. Von Beginn an war klar, dass auch dem AMNOG ein lebenslanges Lernen verordnet ist. Hat man beim 10-jährigen Jubiläum diesen – auch international anerkannten – Meilenstein der sozialrechtlichen Handhabung therapeutischer Innovationen nach überstandenen Kinderkrankheiten noch größtenteils gelobt, sind inzwischen die Diskussionen deutlich kritischer geworden. Was soll aus ihm werden? Die einen sehen vor allem Gefahren, zum Beispiel eine Kostenexplosion durch Zell- und Gentherapien. Andere erkennen Chancen, etwa mit Hilfe von Innovationen die Herausforderungen durch Demografie und Krankheitslasten zu beherrschen. Da könnte mehr miteinander als übereinander reden helfen. Wie wäre es mal wieder mit einem strukturierten Dialog?

Ohne Zweifel müssen in unserem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem, das neue und bewährte Therapien für eine bestmögliche Patientenversorgung gewährleisten soll, Nutzen und Aufwand immerzu austariert werden. Davon ist das AMNOG nicht auszunehmen. Das bedeutet jedoch nicht, es in seinen Grundfesten in Frage zu stellen. So geschehen mit der Einführung der sogenannten Leitplanken im Rahmen des GKV Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG). Es ist wirklichkeitsfremd, zu glauben, medizinischer Fortschritt sei nur als Sprunginnovation zu belohnen. Bereits eine therapeutische Alternative kann im Einzelfall für Arzt und Patient von entscheidender Bedeutung sein. Der Zusatznutzen lässt sich in vielen Indikationen, gerade bei den sogenannten Volkskrankheiten, erst nach Etablierung im Versorgungsalltag belegen. Manch ein Wirkstoff, zunächst wegen mangelnder Evidenz geschmäht, ist heute aus der leitliniengerechten Versorgung nicht mehr wegzudenken.

Mit den durch das GKV-FinStG eingeführten Grundsätzen ist es unausweichlich, dass Pharmaunternehmen ihre Investitionen überdenken. Hierzu gehören Prinzipien wie „gleicher Nutzen (Wert), aber geringerer Preis“ sowie „gewisser Mehrwert, aber dennoch gleicher Preis“. Sie führen zu Opt-outs. Deren Anzahl sagt aber nur sehr bedingt etwas aus. Deutlich gravierender sind die Entscheidungen, die nicht publik gemacht werden können und deren Folgen wir erst nach Jahren erkennen werden – dann, wenn eine Umkehr nur schwer vorstellbar sein wird. Weitere Regelungen, wie der Abschlag auf freie Therapiekombinationen, konnten noch immer nicht umgesetzt werden und entpuppen sich als eine einzige bürokratische Mehrbelastung aller Beteiligten. Die Einsparziele des GKVFinStG sind bis heute fraglich, und die Einsparungen stehen in keinem Verhältnis zu den unerwünschten Wirkungen für Patienten und den Pharma-Standort. Die zunehmenden Mehrfachregulierungen und ihre „Interaktionen“ führen zu Intransparenz und Unsicherheit.

So werden Kalkulationen und Planungen erheblich erschwert. Das ist Gift für Pharma. Das GKV-FinStG irritiert auch durch die vermeintliche Logik, nach der mit steigender Verordnungsmenge der Preis zwangsläufig geringer sein muss. Hier wird irrtümlich angenommen, dass Skaleneffekte zu erzielen sind. Betriebswirtschaftlich werden mengenbezogene Rabatte gewährt, um den Absatz zu fördern. Jedoch sollte sich der Absatz allein am medizinischen Bedarf und Nutzen orientieren. Daher sei diese Frage erlaubt: Ist es gesundheitsökonomisch nicht sogar sinnvoll, wenn mehr Patienten von einer Therapie mit nachgewiesenem Zusatznutzen profitieren? So belasten sie die Sozialsysteme nicht anderweitig und die Versorgungsqualität in Deutschland verbessert sich insgesamt. Ferner ist die preisliche Bezugnahme auf eine zweckmäßige Vergleichstherapie problematisch, wenn diese ebenfalls mit einer Preis-Mengen-Vereinbarung behaftet ist. Dies führt zu einer weiteren Abwärtsspirale. Der Kellertreppeneffekt aus dem Festbetragssystem lässt grüßen. Je größer das Ausmaß einer solchen Vereinbarung, desto mehr entfernt man sich bei der Preisfindung von des AMNOGs Kern: der Nutzenbasiertheit.

Aber jetzt gibt es ja das Medizinforschungsgesetz (MFG). Ist damit alles gut? Keine Frage, die angestrebten Verbesserungen in den Bereichen der Arzneimittelentwicklung sind grundsätzlich zu begrüßen. Aber alle Mühe führt ins Nichts, wenn die Unternehmen am Ende keine Preise erzielen können, welche die enormen Investitionen amortisieren und vor allem als Basis für neue Forschungsanstrengungen dienen.

Der Wert einer Arzneimittelversorgung darf nicht mehr ausschließlich mit einem Preis im herkömmlichen Sinne, unter dem kurzfristigen Aspekt einer vermeintlichen Effizienz, ausgedrückt werden. So werden langfristige Einspareffekte und die Resilienz der Versorgung nicht ausreichend berücksichtigt. Die Chancen, Patienten mit Arzneimitteln effektiv und effizient zu versorgen, sollten viel stärker wahrgenommen und weiter ausgebaut werden. So werden langfristig Kosten im Gesundheits- und Sozialwesen eingespart. Der Erhalt und die Wiederherstellung menschlichen Wohlbefindens und individueller Leistungsfähigkeit für Beruf und Privatleben werden ermöglicht. Nicht zuletzt wird ein erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen generiert. Ideen, Preise ausschließlich kostenbasiert festzulegen, haben eher mit Planwirtschaft als mit Nutzenorientierung zu tun. Sie sind rückwärts und nicht der Zukunft zugewandt.

Das AMNOG hat noch lange nicht ausgelernt. Vielmehr muss es sich stetig so weiterentwickeln, wie sich neue Möglichkeiten für zielgenaue und patientengerechte Forschung ergeben – und konkret in Arzneimittelzulassungen münden. So sind krankmachende Prozesse frühzeitig zu stoppen, statt Symptome zu lindern, wenn es bereits (zu) spät ist. Die personalisierte und indikationsspezifischere Therapie bedingt nun mal kleinere Studienpopulationen. Damit ist umzugehen. Wir müssen alternative Studienendpunkte finden, bessere Datenlagen aufbauen, vorhandene Informationen – RWD – nutzen und die Bewertungsmethoden weiterentwickeln. So gut die anwendungsbegleitenden Datenerhebungen intendiert sind, vielleicht wären hier Schritte statt Sprünge praxisnäher und zielführender. Bei alledem liegt es nicht fern, auch an die Kosten-Nutzen-Analyse zu denken. Aber hierfür müssten wir zunächst die sinnvolle Einsatzgebiete analysieren, Methoden überdenken und Umsetzungen praxisgerecht im Konsens der Betroffenen aufbauen. Wir müssen uns aber vor allem trauen, neue Vertragsformen zu schaffen und auszuprobieren. All das kann nur im Miteinander gelingen, womit wir wieder beim erforderlichen Dialog wären. Gleiches gilt im Übrigen für den europäischen HTA-Prozess. Auch dieser muss ein (schnell) lernendes System werden. Dabei sollten Expertise und Motivation der Industrie nicht vor verschlossenen Türen stehen.

Gesundheitsausgaben sind gerechtfertigt und sinnvoll, sofern ihnen ein Nutzen gegenübersteht. Rationale Arzneimittelversorgung ist für den einzelnen Patienten essenziell. Sie ist zudem (gesundheits-)ökonomisch und ökologisch sinnvoll und damit sozial. Die pharmazeutische Industrie ist dabei ein Schlüsselsektor für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Die Unternehmen und die von ihnen jeweils erschaffenen innovativen Therapien sind für die Menschen, ihr Wohlergehen und ihre Schaffenskraft sowie für die Volkswirtschaft in Deutschland von größter Bedeutung. Wir sollten also nicht den gleichen Fehler zweimal machen und, wie im generischen Bereich, Produktion und Innovation aus Deutschland wegregulieren. Gerade in Zeiten globaler Krisen sind weitere Abhängigkeiten fatal und führen zu einer schrittweisen Deindustrialisierung der Gesundheitswirtschaft in Deutschland.

Den kompletten AMNOG-Report 2024 mit allen Beiträgen finden Sie auf der DAK-Webseite.

Zeichenfläche 1